Audiovisuelle Propaganda in hybriden Mediensystemen

von Jens Eder

Der nachfolgende Text entstand auf Basis des Transkripts des Impulsvortrags von Prof. Dr. Jens Eder, Professor für Dramaturgie und Ästhetik der audiovisuellen Medien an der Filmuniversität Potsdam „Konrad Wolff“. Er hielt ihn am 27. September 2018 auf dem Workshop-Panel „Propaganda und Medienwissenschaft“ der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) in Siegen. 

Dieser Beitrag ist Teil unseres Schwerpunkts Propaganda & Medienwissenschaft.


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte in diesem Vortrag versuchen, das Thema Propaganda und Medienwissenschaft, auf einige Thesen herunterzubrechen.

Die Grundfragen, die sich mir auch im Vorfeld dieser Veranstaltung stellten, sind in der Einführung von Bernd Zywietz bereits aufgegriffen worden. Mein eigener Hintergrund zu dem Thema sind unter anderem Seminare an der Universität in Mannheim zu Propaganda und Ideologie, aus denen Analysemodelle zur Propaganda entstanden sind, Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und die Zusammenarbeit mit Charlotte Klonk zu visuellen Operations (Eder und Klonk 2017), die teilweise propagandistischer Art sind. Aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive ist zudem vor allem die Arbeit mit Chris Tedjasukmana und Britta Hartmann in den beiden Videoaktivismusprojekten zu nennen. Die Website dazu wird auch weiterhin gepflegt und ausgebaut.

Meine erste These betrifft den Propaganda-Begriff. Hier weiche ich sowohl von Kathrin Fahlenbrachs wie auch Bernd Zywietz‘ Vorschlag etwas ab. Meine These lautet: Propaganda ist epistemisch fehlerhaft und/oder manipulative politische Persuasion. Das ist vielleicht ein relativ traditioneller Begriff; er unterscheidet jedoch zugleich bewusst von den Klärungsversuchen Bussemers (2008) und anderer Kommunikationswissenschaftler*innen. Der Grund ist meines Erachtens die Notwendigkeit, sich möglichst weitgehend am allgemeinen Sprachgebrauch zu orientieren, um nicht missverstanden zu werden. Außerdem halte ich es für nötig – vor allem angesichts unseres eigenen Projekts – „Propaganda“ von Begriffen wie dem des Aktivismus abzugrenzen. „Propaganda“ ist in meiner Auffassung ein beobachterrelativer, dezidiert wertender Begriff, der nur für eine Wissenschaft geeignet ist, die sich offen politisch positioniert. Das möchte ich vorausschicken.

Genauer betrachtet ist Propaganda politische Persuasion – das ist bereits dargelegt worden und darin stimmen wir überein. Die pejorativen, die wertenden Komponenten werden in meiner Konzeption hingegen im Anschluss an die Philosophin Sheryl Tuttle-Ross (Ross 2002) berücksichtigt, insofern diese Persuasionsversuche signifikante, nachweisliche epistemische Mängel enthalten und/oder dass sie – im Anschluss an den Diskursforscher Teun van Dijk (2008; 2006) – eine manipulative Gebrauchsstruktur aufweisen. Das heißt, dass hier eine kommunikative Überlegenheitsposition zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer persuasiv genutzt wird.

Ich denke, der Vorteil eines solchen Begriffes besteht darin, zum einen eben weniger missverständlich zu sein und an den Alltagsgebrauch anzuschließen. Zum anderen fordert er auch aus wissenschaftlicher Perspektive dazu auf, epistemische Fehler und Manipulationsversuche auf Grundlage bestimmter Kriterien nachzuweisen. Wobei es natürlich solche Kriterien überhaupt erst zu entwickeln und zu spezifizieren wären.

Die zweite These: Mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen – beispielsweise dem Projekt Dschihadismus im Internet – vernachlässigt die Medienwissenschaft die Analyse (insbesondere aktueller) Propaganda. Sie hinkt dem Medienjournalismus, aber auch der Kommunikationswissenschaft und der Medienkritik hinterher, die als wissenschaftliche hier Disziplinen vorherrschend sind. In diesem Bezug hat die Medienwissenschaft weitestgehend den Kontakt zur öffentlichen Diskussion verloren, dabei könnte sie wichtige Debattenbeiträge leisten. Diese betreffen aus meiner Sicht, erstens, die Rolle von Medientexten, von Medienästhetik und Wirkungspotenzialen, zweitens, die Rolle von Medien als Techniken und Systemen und, drittens, die Rolle von Diskursen und Medienkulturen. Viertens – und das ist das Feld, in dem der größte Teil der publizistik- und medienwissenschaftlichen Forschung stattfindet – die Geschichte und der Wandel medialer Propaganda.

Gerade in den ersten drei Bereichen, vor allem aber im zweiten und dritten (also denen der Rolle von Medien, Diskursen und Medienkulturen) ist es aus meiner Sicht für die Medienwissenschaft zunehmend notwendig, mit anderen Disziplinen eng zu kooperieren und sich dabei weniger stark gegen die Kommunikationswissenschaft und die Computerwissenschaften abzugrenzen, sondern zu versuchen, von ihnen zu lernen, sie aber auch zu kritisieren.

Das betrifft vor allen Dingen – und das ist die dritte These – einen bestimmten Bereich: Es mangelt an einer Erforschung dessen, was gerade passiert, an einer Forschung zur Propaganda mittels Sozialer Medien und vor allem visueller Sozialer Medien in hybriden Mediensystemen. Die Herausforderung besteht darin, dass sich neue Formen der Propaganda im Social Web und in diesen hybriden Mediensystemen herausgebildet haben. Schlagworte dazu kennen Sie: Meme Wars, Image Operations, Alternative Facts, Fake News, Fake Accounts, Social Bots, Trolling, Sockpuppeting, Influencer, Echokammern usw. Das sind Phänomene heutiger Propaganda – Mittel und Techniken, für die man jedoch erst neue wissenschaftliche Begriffe und eine neue wissenschaftliche Reflexion finden und etablieren muss. Zudem braucht es neue Methoden, um den Bereich der Distribution von Propaganda geschickter untersuchen zu können. Das betrifft beispielsweise die Erforschung der viralen Verbreitung, von Cyber-Kaskaden und dergleichen. Bislang gibt es hierbei eine ganze Menge methodologischer Mängel und Probleme. Sie betreffen u.a. den Zugang zu gängigen Social-Media-Metriken: Diese sind kommerziell und kostenpflichtig, oft wissenschaftlich nicht nachvollziehbar und einer Überprüfung nicht zugänglich. Die Frage ist, wie sich trotzdem oder alternativ an das Thema empirischer Nutzungs- und anderer Daten herangehen lässt, gerade auch aus einer im weitesten Sinne hermeneutischen, qualitativen, interpretierenden Perspektive, die keinem digitalen Methodenfetischismus verfällt.

Vierte und letzte These: Diese medienwissenschaftliche Forschung ist heute so dringlich, weil rechte Populisten und Extremisten – Kathrin Fahlenbrach hat es bereits erwähnt – Propagandatechniken einsetzen und perfektionieren.

Wichtig ist mir, dass wir jetzt darauf reagieren, denn wenn nicht jetzt etwas dagegen unternommen wird, wird diese Dominanz rechter Bewegungen bzw. ihr Einfluss sich weiter auswachsen.

Einen Beispielfall für das, was ich meine, kennen Sie wahrscheinlich: Jayda Fransen und Britain First, eine rechtextremistische Bewegung und eine Zeitlang Partei in Großbritannien, verbreiten fremdenfeindliche Propaganda in Form diverser Videos, die Gewalttaten von Muslimen gegen Nicht-Muslime in europäischen Ländern schildern. Die Videos verbreiten sich relativ weit im Netz, vor allem in rechten Zirkeln. Als schließlich gar US-Präsident Donald Trump sie retweetet, entsteht ein ungeheurer Zulauf, zumal auch die etablierten Massenmedien darüber berichten. Dies steigert wiederum die Bekanntheit der Propagandafilme und befördert das „Hängenbleiben“ ihrer fremdenfeindlichen und rechtsextremen Aussagen.

Diese Verkettung ist ein Beispiel für das, was der britische Politologe Andrew Chadwick als „hybride Mediensysteme“ bezeichnet (Chadwick 2013). Der Begriff zielt ab auf die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen traditionellen Massenmedien und Sozialen Medien. Beide Systeme funktionieren nach unterschiedlichen Logiken, die sich jedoch ergänzen, ineinandergreifen und neuartige Dynamiken entstehen lassen, die erst noch näher zu beschreiben sind. Es gibt erste Untersuchungen dazu, dass die Auswirkungen dieses Zusammenhangs im Falle des Rechtspopulismus und des Rechtsextremismus relativ drastisch ausfallen können. Das legen Untersuchungen wie jene von Karsten Müller und Carlo Schwarz, Ökonomen der University of Warwick, nahe (Müller und Schwarz 2017). Beide zeigen nach Herausrechnen diverser statistischer Faktoren eine Korrelation zwischen der Anzahl von Trump-Tweets oder AfD-Facebook-Posts und Gewalttaten gegen Fremde, Ausländer*innen oder Geflüchtete auf.

Hierzu eine Grafik der Berichterstattung des Economist zu dieser Studie:

Allerdings unterliegt diese Studie den üblichen Problemen statistischer Auswertungen. Zudem gilt Vorsicht wenn darum geht, von Korrelation auf Kausalität zu schließen (selbst wenn die Autoren hier versucht haben, dafür Argumente zu liefern). Müller und Schwarz sind dafür – wie für andere Punkte – auch kritisiert worden.[1] Trotzdem wird durch solche und andere Studien die Dringlichkeit, sich dieses Untersuchungsbereichs medienwissenschaftlich zu widmen, deutlich.

In unserer eigenen, bereits erwähnten Forschung zum Videoaktivismus versuchen wir nun eher zu betrachten, was dagegen „die Guten“ bzw. Aktivistinnen und Aktivisten unternehmen. Einiges davon lässt sich auf rechtspopulistische und rechtsextremistische Propaganda übertragen, insbesondere die besonders große Bedeutung audiovisueller Medienformate. Das Visual Social Media Lab der University of Sheffield hat diese Relevanz teilweise auch statistisch untersucht; es gibt die „Video first“-Losung von Facebook-Gründer und Vorstandsvorsitzendem Mark Zuckerberg sowie weitere Belege für die Zunahme von Videos in diversen Sozialen Medien und Netzwerken. Vor diesem Hintergrund lassen sich gerade audiovisuelle Propagandaauseinandersetzungen als einen Kampf um Aufmerksamkeit verstehen.

Wir fragen in unserem Projekt dementsprechend, was die Impact- oder Aufmerksamkeitsstrategien von Videos bzw. der politischen Persuasion vermittels Videos sind. Dies tun wir hinsichtlich der Produktionen, der sich bildenden Produktionsallianzen, der Produktionsformen – was mit dem Production-Studies-Ansatz untersuchbar ist – sowie neuer Formen der an die Verbreitung in hybriden Mediensystemen angepassten Gestaltung und Distribution.

Ich möchte hierzu nur ein Beispiel anführen: With Open Gates, eines der meistverbreiteten Videos in rechten Netzen. Es hat sich über diverse „Mirrors“ jeweils (bis zu zehn-) millionenfach verbreitet, ist immer wieder gelöscht aber auch immer wieder hochgeladen worden. An diesem Video lassen sich sowohl Gestaltungsstrategien wie propagandistische Techniken, systematische epistemische Fehler und manipulative Taktiken aufzeigen, wie dies etwa Philip Kleinfeld in Vice detailliert getan hat (Kleinfeld 2015). Die virale Verbreitung von With Open Gates ist wiederum von Marilyn Mayo (Senior Research Fellow am Center on Extremism der Anti-Defamation League) untersucht worden (Mayo 2015). Sie kann plausibel darlegen, dass und wie ein sehr gezielte Verbreitungsstrategie verfolgt wurde, und es lässt sich – aus der Perspektive des politischen Framings – hier von automatisierten affektiven Öffentlichkeiten als relevanter Zielgröße sprechen. Untersuchungen zur Plattform Society (van Dijck et al. 2018; van Dijck und Poell 2015) und zur automatisierten Öffentlichkeit (Automated Public Spheres) von Frank Pasquale (Pasquale 2017)[2] können als Grundlage dienen – oder aber Zizi Papacharissis Konzept der Affective Publics (Papacharissi 2015): Emotionen haben in diesen „affektiven Öffentlichkeiten“ einen hohen konstitutiven Anteil an der Verbreitung von Inhalten, sie lösen beim Einzelnen Affektkaskaden oder Emotionsketten von Hass, Angst oder, in anderen Fällen, Empathie und Identifikation mit einer Eigengruppe aus. Dabei greift hier als Grundlagen von Propaganda das psychologische und das technologische Unbewusste ineinander.

Darauf möchte ich an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen, sondern meinen Impulsvortrag an dieser Stelle schließen und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.



[1]However, the researchers were able to rule out several alternative theories. AfD Facebook posts that contained the words “Muslim”, “Islam” or “Juden” (Jews) but did not refer to refugees did not tend to coincide with attacks on refugees, which suggests that general anti-minority sentiment is not to blame. Similarly, posts about refugees from political parties other than the AfD did not appear to correlate with hate crimes. The authors even came across one pattern that could be described as a smoking gun: at times when residents in a given area reported poor internet connections, the correlation between social-media and anti-refugee violence in that region weakened.“ – Economist-Bericht (12. Januar 2018).

[2] Eine Aufzeichnung von Frank Pasquales Vortrag auf der re:publica 2017 zu diesem Thema findet sich online unter https://www.youtube.com/watch?v=aa7ddud_klA (veröffentlicht am 16.05.2017; Zugriff: 22.01.2018)



Literaturverzeichnis

Bussemer, Thymian (2008): Propaganda. Konzepte und Theorien. 2. Aufl. Wiesbaden: VS.

Chadwick, Andrew (2013): The Hybrid Media System. Politics and Power. 2. Aufl. New York: Oxford University Press.

Eder, Jens; Klonk, Charlotte (Hg.) (2017): Image Operations. Visual Media and Political Conflict. Manchester: Manchester University Press.

Kleinfeld, Philip (2015): Calling Bullshit on the Anti-Refugee Video Taking the Internet By Storm. In: Vice, 27.11.2015. Online verfügbar unter www.vice.com/en_us/article/ppx4kg/with-open-gates-the-forced-collective-suicide-of-european-nations-debunked-938, zuletzt geprüft am 04.12.2018.

Mayo, Marilyn (2015): “With Open Gates”: Racist Anti-Refugee Video Goes Viral. Anti-Defamation League (ADL). Online verfügbar unter: https://www.adl.org/blog/with-open-gates-racist-anti-refugee-video-goes-viral, zuletzt geprüft am 04.12.2018.

Müller, Karsten; Schwarz, Carlo (2017): Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime. In: SSRN Journal. DOI: 10.2139/ssrn.3082972. Online auch verfügbar unter: https://warwick.ac.uk/fac/soc/economics/staff/crschwarz/fanning-flames-hate.pdf, zuletzt geprüft am 04.12.2018.

Papacharissi, Zizi (2015): Affective Publics. Sentiment, Technology, and Politics. Oxford, New York, NY: Oxford University Press.

Pasquale, Frank A. (2017): The Automated Public Sphere. In: SSRN Journal (2017-31). DOI: 10.2139/ssrn.3082972. Online verfügbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3067552, zuletzt geprüft am 04.12.2018.

Ross, Sheryl Tuttle (2002): Understanding Propaganda: The Epistemic Merit Model and Its Application to Art. In: Journal of Aesthetic Education 36 (1), S. 16–30. DOI: 10.2307/3333623.

van Dijck, José; Poell, Thomas (2015): Social Media and the Transformation of Public Space. In: Social Media + Society 1 (2). DOI: 10.1177/2056305115622482.

van Dijck, José; Poell, Thomas; Waal, Martijn de (2018): The Platform Society. Public Values in a Connective World. Oxford, New York: Oxford University Press.

van Dijk, Teun A. (2006): Ideology and discourse analysis. In: Journal of Political Ideologies 11 (2), S. 115–140. DOI: 10.1080/13569310600687908.

van Dijk, Teun A. (2008): Discourse and Context. A Sociocognitive Approach. Cambridge: Cambridge Univ. Press.