Postmoderne Propaganda aus medientheoretischer Perspektive: ein Impuls

von Anne Ulrich

Der nachfolgende Text basiert auf dem Transkripts eines Impulsvortrags von Dr. Anne Ulrich, Akademische Rätin am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie hielt ihn am 27. September 2018 auf dem Workshop-Panel „Propaganda und Medienwissenschaft“ der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) in Siegen. 

Dieser Beitrag ist Teil unseres Schwerpunkts Propaganda & Medienwissenschaft



Sehr geehrte Damen und Herren,

ich schließe mich Jens Eder an: Die Untersuchung von Propaganda ist in der Medienwissenschaft ein Desiderat. Interessanterweise trifft dies auch auf die Rhetorik zu, über die ich ebenfalls ein wenig Auskunft geben kann. Diese hat sich – sofern man eine ganze Disziplin so pauschalisierend beschreiben kann – lange zwar durchaus mit politischer Propaganda auseinandergesetzt, oft jedoch aus einer rein kritischen und abgrenzenden Haltung heraus. Um die eigene Beschäftigung mit der Geschichte, Theorie und Praxis kommunikativer Beeinflussung rechtfertigen zu können, wurde Propaganda als ein Gegenbild entworfen, das die ‚andere‘, ‚dunkle‘ Seite der Rhetorik zu repräsentieren hatte. Dies verstellte an manchen Stellen den Blick dafür, dass in Propaganda ‚gewöhnliche‘ rhetorische Mittel und Techniken zum Einsatz kommen können, die nicht per se verdächtig sind.

Mein Eindruck ist, dass sich dies ändert. So erinnert man sich im Fach etwa an die Neutralitätsthese von Harold D. Lasswell, der Propaganda als ein an sich neutrales Werkzeug bestimmte, das zu moralisch bedenklichen oder unbedenklichen Zwecken eingesetzt werden kann. Die eigentliche Stärke der Rhetorik als Disziplin für die Untersuchung von Propaganda liegt meines Erachtens darin, dass sie Form- und Funktionsmuster zu erkennen vermag, ohne die Sensibilität für historische Kontexte zu verlieren. Auch ethische Debatten sind der Rhetorikgeschichte keineswegs fremd. Sie sind hilfreich, potentielle Probleme von Persuasionsprozessen beschreiben und einordnen zu können, nicht jedoch, um Propaganda und Rhetorik voneinander zu scheiden. Die Disziplin Rhetorik interessiert sich meines Erachtens eher für die Frage, mit welchen Argumenten zu einem bestimmten Zeitpunkt Rhetorik und Propaganda voneinander unterschieden wurden, als dass sie selbst eine solche Unterscheidung für immer festschreiben wollte.

Bernd Zywietz hat in seiner Einleitung darauf hingewiesen, dass Propaganda ­– als Begriff und als Phänomen – ein Kind der Moderne ist. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob zeitgenössische, als propagandistisch beobachtete Phänomene nicht vielmehr als Kinder der Postmoderne beschrieben werden könnten – freilich ohne deren Bezug zur Moderne zu ignorieren. Interessant wird es meines Erachtens gerade dann, wenn man postmoderne und moderne Propaganda als wechselseitig aufeinander bezogen betrachtet. In meinem Impulsvortrag werde ich daher den Begriff der ‚postmodernen Propaganda‘ zur Diskussion stellen und an einem Beispiel verdeutlichen, wie sich die bedrohliche Wirkung dieser postmodernen Propaganda gerade an ihrer Medialität festmachen lässt. Ich mache dies vor dem Hintergrund meiner Beschäftigung mit der Rhetorizität und Medialität von terroristischer Bedrohung im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs „Bedrohte Ordnungen“.

Als Einstieg dient mir ein Artikel der Online-Ausgabe der Welt, in dem der Politikjournalist Richard Herzinger den Begriff verwendet und wie folgt definiert:

Die ‚klassische‘ Propaganda zielte darauf, Tatsachen durch Lügen, Wirklichkeit durch ideologische Fiktionen zu ersetzen. Heute entwickeln avancierte Propagandamaschinerien ‚postmoderne‘ Techniken, um bei den Rezipienten die Fähigkeit zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, Realität und Imagination insgesamt auszulöschen“ (Herzinger 2016).

Was der Autor hier intuitiv beschreibt, lohnt der näheren Betrachtung. Er braucht ein modernes, von ihm ‚klassisch‘ genanntes Verständnis von Propaganda, von dem er das neue, postmoderne Verständnis abgrenzen kann. Dazu greift er auf den Topos zurück, moderne Propaganda basiere auf Lüge und Täuschung und – so wird zu verstehen gegeben – sei selbstverständlich nur dann erfolgreich, wenn diese Lüge oder Täuschung von den Rezipienten nicht als solche erkannt werde. Erkennen sie, dass sie belogen oder getäuscht werden, sprechen sie den Kommunikatoren ihre Glaubwürdigkeit ab, und die Persuasionsstrategie scheitert. Die Geltungsansprüche der Wahrheit und Aufrichtigkeit bleiben weiterhin relevant und gültig, ebenso wird die Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge, Aufrichtigkeit und Täuschung nicht in Frage gestellt. In dieses Verständnis würde ich auch die Überlegungen von Sheryl Tuttle Ross einordnen, die (wie von Jens Eder angesprochen) Propaganda als epistemisch defekte Kommunikation definieret. Der Begriff „epistemisch defekte Kommunikation“ ist nun vage, weil Ross darunter nicht nur Falschaussagen, sondern auch Trugschlüsse, schlechte Argumente und moralische Befehle oder schiefe Metaphern versteht (vgl. Ross 2002: 23). Zugleich impliziert er die komplementäre Vorstellung einer „epistemisch intakten“ Kommunikation. So lebt also auch Tuttle Ross‘ Konzeption von der Unterscheidung und Unterscheidbarkeit von defekt und intakt, von falsch und richtig, Lüge und Wahrheit, selbst wenn sie nicht klar macht, auf welcher Grundlage Rezipienten zwischen diesen Dichotomien unterscheiden können. Aus rhetorischer Perspektive wäre hinzuzufügen, dass es durchaus auch Kontexte geben kann, in denen die Kategorie der Wahrheit gar nicht greift, sondern auf Kriterien der Wahrscheinlichkeit zurückgegriffen werden muss, wenn die Plausibilität einer Argumentation etc. überprüft werden soll.

Im Gegensatz zu diesem modernen Verständnis stellt postmoderne Propaganda, so die These, zwar nicht zwingend die Unterscheidungen in Frage, wohl aber unsere Praktiken des Unterscheidens. Vorweg: Ich glaube nicht, dass Propaganda (und schon gar nicht die von Herzinger sogenannten „Propagandamaschinerien“) gibt, die diese Dichotomien (also Wahrheit/Lüge, Aufrichtigkeit/Täuschung, Realität/Imagination) und ihre Gültigkeit völlig aushebeln kann. Dennoch liegt offensichtlich eine besondere Bedrohlichkeit darin, die Koordinaten des Unterscheidens auch nur zu hinterfragen.

Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist demnach die Frage relevant, welchen Beitrag die Spezifika des Medialen leisten, um die Dichotomie von Wahrheit und Lüge, von Realität und Imagination, wie auch ihre Unterscheidbarkeit zu bestätigen oder in Frage zu stellen. Als Beispiel möchte ich ein Propagandavideo der dschihadistischen Miliz ‚Islamischer Staat‘ vorstellen, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es sich in Bezug auf manche dieser Fragen nicht eindeutig einordnen lässt. Es ist der Auftakt einer ganzen Videoreihe, die den Titel Lend me your ears trägt und im Herbst 2014 für Aufsehen sorgt. Sie zeigt den

britischen Journalisten John Cantlie, der 2012 in Syrien in die Gefangenschaft des ‚Islamischen Staats‘ geriet. Nach zwei Jahren Ungewissheit über sein Schicksal wird jenes im Video jedoch nicht – wie im Fall einiger seiner Mitgefangenen – mit der Enthauptung besiegelt. Vielmehr wird Cantlie offensichtlich dazu gezwungen, als Sprachrohr des ‚Islamischen Staats‘ zu fungieren und für die Sache der Dschihadisten Partei zu ergreifen.

Die Erschütterung, welche die Videoaufnahmen bei der Betrachtung auslösen kann, resultiert nicht nur aus dem Eindruck, dass hier ein von der Gefangenschaft, mutmaßlichen Misshandlungen und kargen Lebensumständen Gezeichneter zu sehen ist, also eine Art Phantom, das für einen kurzen Augenblick ans Licht der Weltöffentlichkeit gezerrt wird, sondern auch aus der naheliegenden Vermutung, dass Cantlie gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugung als ‚umgedrehter‘ Gefangener präsentiert wird. Noch unheimlicher wird der Eindruck dadurch, dass das Video all diese Reaktionen antizipiert und mit ihnen spielt, indem – und das ist die postmoderne Dimension – die stillschweigenden Annahmen der Betrachter über die Sprecherposition Cantlies sowohl bestätigt als auch konterkariert werden. Das Video verweigert sich, so meine These, in vielerlei Hinsicht sehr konsequent einer eindeutigen Lesart.

Der ‚Islamische Staat‘ lässt Cantlie zunächst folgende Worte sprechen: „Hello, I’m John Cantlie. I’m a British journalist […]. In November 2012 I came to Syria where I was subsequently captured by the Islamic State.“ (LMYE, Pilotfolge, min. 00:18–00:41) Zunächst also werden die stillschweigenden Annahmen der Betrachter eines Geiselvideos bestätigt: Der Sprecher Cantlie wird als Gefangener präsentiert, der vorliest, was ihm aufgetragen wurde, jedoch keinerlei Einfluss auf das Gesagte hat. Seine Präsenz liefert ein Lebenszeichen von ihm, mehr nicht. Der ‚Islamische Staat‘ lässt ihn dann allerdings folgendermaßen fortfahren:

Now I know what you’re thinking, you’re thinking: ‚He’s only doing this because he’s a prisoner. He’s got a gun at his head and he’s being forced to do this,‘ right? Well it’s true. I am a prisoner – that I cannot deny. But seeing as I’ve been abandoned by my government and my fate now lies in the hands of Islamic State I have nothing to lose. Maybe I will live and maybe I will die, but I want to take this opportunity to convey some facts that you can verify. Facts that if you contemplate might help preserving lives.“ (LMYE, Pilotfolge, min 01:00–01:38).

Bearbeiteter Screenshot aus „Lend Me Your Ears“ (2014)

Die Gewissheit, Cantlie fungiere gewissermaßen als reines Medium, das hinter dem vorgelesenen Text unsichtbar wird und höchstens als ‚Spur‘, als Lebenszeichen, präsent ist, wird hiermit Schritt für Schritt in Frage gestellt. Allein die Tatsache, dass die Zwangslage, in der sich der Gefangene befindet, offen angesprochen wird, sät Zweifel: Steht jemand ernsthaft unter Zwang, wenn er genau dies ansprechen kann? Hinzu kommen weitere Indizien, etwa die Wechsel zwischen der ersten und dritten Person, zwischen der eigenen Perspektive und derjenigen der Betrachter, die von wechselnden Kameraperspektiven unterstützt werden. Auch die Tatsache, dass manchen Aussagen der Wahrheitsgehalt nicht abgesprochen werden kann (die britische Regierung zahlt prinzipiell kein Lösegeld an den ‚Islamischen Staat‘), während andere, insbesondere aus den folgenden Passagen, zweifelsfrei als fragwürdig einzuordnen sind, lässt das Video als postmodern und nicht modern erscheinen. Nicht nur die Frage nach der Autorschaft (Wer spricht, wenn John Cantlie spricht?) kann aus der Betrachtung der Videos nicht eindeutig beantworten werden, sondern auch die Frage danach, ob er, während wir ihn im Video betrachten, überhaupt noch am Leben ist. (Über das Schicksal John Cantlies ist nichts öffentlich bekannt, zuletzt geisterte im Januar 2019 eine Meldung der Demokratischen Kräfte Syriens durchs Internet, nach der er im vergangenen Jahr noch lebend gesehen worden sei). Als das wirklich Bedrohliche an diesem Beispiel postmoderne Propaganda erscheint also die Nicht-Beantwortbarkeit dieser Fragen.

Postmoderne Propaganda verfügt – mit Jacques Derrida gesprochen – über spektrale Qualitäten. Die genannten textuellen und medialen Spezifika des Videos sind für den gespensthaften, also gleichermaßen bedrohlichen wie irritierenden Eindruck verantwortlich, den es bei den Betrachtern hinterlässt. In Derridas Verständnis ist es das Gespenst, das Dichotomien durchschreitet und hinterfragt (vgl. Derrida 2014). In einem Gespräch mit Bernd Stiegler über das Fernsehen betont er: „Das Gespenst ist sichtbar und unsichtbar, phänomenal und nichtphänomenal, zugleich eine Spur, die von vornherein die Gegenwart ihrer Abwesenheit markiert. Die Logik des Spuks ist de facto eine dekonstruktive Logik“ (Derrida und Stiegler 2006: 133).

Wie ich an anderer Stelle ausführlicher zeige (Ulrich 2019), erweist sich Derridas Konzept in verschiedener Hinsicht als nützliche Metapher für die Analyse des Cantlie-Videos. Sie lässt sich nicht nur auf die Darstellung eines (noch) lebenden Gefangenen anwenden, der zum Zeitpunkt der Betrachtung dieser Darstellung schon längst tot sein könnte. Sondern auch auf die Autorschaft Cantlies und unsere stillschweigenden Annahmen über Sprecherpositionen, Wahrheit und Lüge im Geiselvideo. Obendrein wirkt der Status des Videos selbst gespensterhaft, da es im Internet zahlreiche Spuren hinterlassen ist, aber kaum – und wenn ja, nie für lange Zeit – an einem verlässlichen Ort in voller Länge abgerufen werden kann.

Etwas weitergehend ließe sich diese Figur des Gespensts aber auch auf den ‚Islamischen Staat‘ selbst anwenden, der im Video nicht wirklich sicht- oder greifbar wird, aber dennoch durchweg präsent ist und die Vorannahmen der Betrachter hinsichtlich der Art und Weise, wie er Propaganda betreibt, gründlich ins Wanken bringt.

Das alles muss den Glauben an die prinzipielle Gültigkeit dieser Vorannahmen nicht zwangsläufig zerstören – genauso wenig wie es vermutlich den Glauben an die Unterscheidbarkeit von ‚wahr‘ und ‘falsch‘, ‚real‘ und ‚imaginär‘ zwingend erschüttert. Aber es leistet einen Beitrag zu einer epistemischen Irritation und ist allein aus diesem Grund als Störung der Ordnung bedrohlich. Medientheoretisch lässt sich diese Irritation mit der Verdachtstheorie Boris Groys’ übrigens gewinnbringend beschreiben – auch wenn ihr dazu keinesfalls in ihrer Absolutsetzung gefolgt werden muss. Groys trennt zwischen medialer Oberfläche und „submedialem Raum“ und geht davon aus, dass Betrachter davon ausgehen, „die Dinge sähen in ihrem Inneren anders aus, als sie sich auf der Oberfläche zeigen“ (Groys 2000, S. 64f.). Dieser medienontologische Verdacht lässt sich nach Groys weder bestätigen noch entkräften, sondern immer nur ahnen, und zwar in einem ewigen Kreislauf von Verdacht, Entlarvung, Bestätigung und erneuter Verdächtigung.

In Verbindung mit Derridas Gespenster-Metapher lässt sich dieses Konzept dazu verwenden, postmoderne Propaganda wie das Lend me your ears-Video des ‚Islamischen Staats‘ differenziert zu beschreiben. Damit wird es möglich, einen Ansatz zu entwickeln, der Propagandaforschung und Medientheorie aus einer genuin medienwissenschaftlichen Perspektive verbindet und die eingangs genannte Forschungslücke langfristig zu schließen vermag.


Literaturverzeichnis

Derrida, Jacques (2014): Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Frz. von Susanne Lüdemann. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014 (frz. Original: Paris 1993).

Derrida, Jacques; Stiegler, Bernard (2006): Echographien. Fernsehgespräche. Wien: Passagen Verl.

Groys, Boris (2000): Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München: Hanser.

Herzinger, Richard (2016): Wie postmoderne Propaganda ihre eigene Wahrheit macht. In: Welt Online, 15.04.2016. Online verfügbar unter https://www.welt.de/kultur/article154365869/Wie-postmoderne-Propaganda-ihre-eigene-Wahrheit-macht.html, zuletzt geprüft am 07.02.2019.

Ross, Sheryl Tuttle (2002): Understanding Propaganda: The Epistemic Merit Model and Its Application to Art. In: Journal of Aesthetic Education 36 (1), S. 16–30. DOI: 10.2307/3333623 .

Ulrich, Anne (2019): „Hello, I’m John Cantlie“. Dschihadistischer Terrorismus und die gespenstische Medialität von Bedrohung. In: Zeitschrift für Semiotik (3-4) (im Erscheinen).