Buch: „The ISIS Reader: Milestone Texts of the Islamic State Movement“ (2020)

Mit dem ISIS Reader haben drei renommierte Dschihadismus-Forscher – Haroro J. Ingram, Craig Whiteside und Charlie Winter – „Meilenstein“-Texte gesammelt und kommentiert, die die Entstehungs- oder Entwicklungsgeschichte des „Islamischen Staats“ nachzeichnen. Dabei ist der Name des Bandes ein wenig irreführend. Mit „ISIS“ wird hier nicht, wie im US-amerikanischen Sprachraum üblich, der „Islamische Staat im Irak und in Sham“ (Großsyrien) sowie (unter Beibehaltung des Akronyms) der „Islamische Staat“, sprich: die Terrormiliz seit 2013 erfasst. Vielmehr greift der Band in seinen ersten beiden Teilen weiter aus und beginnt mit einer frühen Ansprache von Abu Musab al-Zarkawi aus dem Jahr 1994, mithin noch vor der Begründung der Gruppe Jama’at al-Tauhid wal-Dschihad (Gemeinschaft des Einheitsglaubens und des Dschihad), die gemeinhin als erste Vorgängergruppierung des IS betrachtet wird. Es geht also, wie der Untertitel es verdeutlicht, tatsächlich in erster Linie um die IS-Bewegung – und mithin um die Skizzierung einer Ideenentwicklung entlang von Original-Texten, die auch „Dabiq“-Beiträge oder das IS-Video The Structure of the Caliphate aufgreift. Wobei sich bei letzterem die Wiedergabe und die beigestellte „Analyse“ auf die Audiokommentarebene (mit einigen spärlichen Beschreibungen dessse, was zu sehen ist) beschränkt. Generell geht es um die Deutung und Interpretation der konkreten Aussagen, formale oder „poetologische“ Aspekte spielen, der fachlichen und professionellen Verortung der Herausgeber und Verfasser gemäß.

Das ist interessant und wertvoll als Quellen- und Studienbuch, und über die Auswahl lässt sich ohnehin immer streiten: Warum dieser Text und nicht ein anderer? Weshalb fehlt dieser oder jener? Angesichts des enormen Theorie- bzw. Propaganda-Outputs des IS v.a. wirkt die Zusammenstellung der Primärquellen zwangsläufig begrenzt und notgedrungen willkürlich.

Ebenso ließe sich kritisieren, dass etwas „unordentlich“ neben Wortmeldungen der Anführer Einzelthemen wie die Frauen(rolle) oder die Bedeutung der Medien je einzeln adressiert werden. Oder es wird dies als Vorteil erachtet, insbesondere, wenn man den Herausgebern der Propagandafremd- und Autoren der leider oft sehr kurzen eigenen Begleittexte in ihrer Expertise vertraut. Dass The ISIS Reader: Milestone Texts of the Islamic State Movement  nicht der letzte Schluss in Sachen editorialer Aufarbeitung des IS-Schrifttums ist, ist selbstverständlich – dass sich mehr Arbeit in dieser Hinsicht lohnt und Band es belegt, spricht für ihn. Allein schon die Idee-Umsetzung der seriösen, kommentierten IS-Textsammlung macht ihn zum Instant-Referenzwerk für all jene, die sich in Forschung und Lehre mit der IS-Propaganda als fremden und fremdartigen Dickicht auseinandersetzen wollen. Oder schlicht für alle, die einen gesicherten Ein- und Überblick in die Thematik, Sprache bzw. Rhetorik der Dschihadisten bekommen wollen, ohne selbst im Netz danach suchen zu wollen.

Ein fast 70-minütiges Gespräch mit Craig Whiteside, Charlie Winter und Haroro J. Ingram zu ihrem Buch als Episode des Podcasts The Loopcasts finden Sie HIER.

The Isis Reader: Milestone Texts of the Islamic State Movement

hrsgg. v. Haroro J. Ingram, Craig Whiteside & Charlie Winter

(ISBN 978-0-19-750143-6)

(zyw)